Streit um das Quarantäne-Ostern

Hintergründe

Für die orthodoxe Kirche ist das Osterfest ein herausragendes Ereignis des Kirchenjahres. Am vergangenen Wochenende wurde es gefeiert. Doch in SARS-CoV-2-Zeiten führt Ostern auch zu schweren Konflikten zwischen der geistlichen und weltlichen Macht. Aus Tiflis, Kiew und Moskau berichten die Büroleiter Dr. Stefan Meister, Sergej Sumlenny und Johannes Voswinkel.

Russisch-orthodoxe Feier der Auferstehung Jesu

GEORGIEN: Die georgisch-orthodoxe Kirche – Ein Risiko in Zeiten der Corona-Pandemie?

Die georgische Regierung hat nach ersten Covid-19--Fällen Ende Februar sehr schnell reagiert und das öffentliche und wirtschaftliche Leben des Landes bereits seit Anfang März heruntergefahren. Dabei hat sie auf die Stimmen von Experten u.a. des Zentrums für Krankheitskontrolle und öffentliche Gesundheit gehört und transparent über aktuelle Zahlen, Maßnahmen, Selbstschutz, aber auch Desinformation um das Thema Pandemie informiert. Dafür hat der bis dahin eher unbeliebte Premierminister Giorgi Gakharia von der Regierungspartei Georgischer Traum viel Zustimmung erhalten. 

Die Kirche hält stur an ihren Traditionen fest

Demgegenüber hat die orthodoxe Kirche unter dem 87-jährige Patriarchen Ilia II. lange starr an den üblichen Prozeduren für die Messe festgehalten und bis in den April hinein noch bei der Kommunion einen Löffel für alle Gläubigen benutzt, was eine Ansteckung praktisch unausweichlich macht. Beobachter argumentieren, dass die Ausrufung des Notstandes am 21. März auch eine Reaktion darauf war, dass sich die Kirche nicht an Abstandsregeln gehalten hat und nun gesetzliche Regeln zur Anwendung kamen, die auch der Patriarch nicht ignorieren konnte.

Die Kirche hat jedoch unmittelbar der Regierung öffentlich widersprochen, dass diese Regeln für sie nicht gelten. Gleichzeitig hatte sie angekündigt, in der Osternacht die Ausgangssperre von 21.00 abends bis 9.00 morgens zu unterlaufen, indem die Gläubigen die gesamte Nacht in der Kirche verbringen sollten. Die Regierung befürchtete, dass es zum orthodoxen Osterwochenende zu einem massiven Anstieg der Ansteckungszahlen kommen könnte, scheute sich aber wegen der hohen Autorität der Kirche vor direkter Konfrontation.

Möchte der Georgische Traum im Herbst die anstehende Parlamentswahl gewinnen, ist er auf die Unterstützung der Kirche angewiesen. Neben der Armee ist die Kirche die Institution im Land mit der höchsten Glaubwürdigkeit. Während 85 Prozent der Georgier positiv gegenüber der Kirche eingestellt sind, gilt das nur für 37 Prozent gegenüber der Regierung und 28 Prozent gegenüber den Parteien.

Die nationale Kirche gilt als Ausdruck der Eigenständigkeit

Hochrangige Minister/innen und Abgeordnete haben deshalb vor Ostern Appelle an die Bevölkerung gerichtet, zu Hause zu bleiben und der traditionellen Messe in der Nacht zum Ostersonntag fernzubleiben. Premierminister Gakharia wirkte fast hilflos, als er mit den Worten zitiert wurde: „Als Christ folge ich all dem [der Ostermesse] von zu Hause.“

Ostern ist für die orthodoxen Georgier das wichtigste kirchliche Fest im Jahr, vergleichbar mit Weihnachten in Deutschland. Viele Georgier erinnern sich noch an die Sowjetunion, wo ihre nationale Kirche unterdrückt wurde und kirchliche Feiertage nicht gefeiert werden durften. Die georgische orthodoxe Kirche ist eine eigenständige Kirche, die nicht dem Moskauer Patriarchat untersteht und bis auf einige Jahrzehnte im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts unter Herrschaft des russischen Zarenreiches immer ihre Eigenständigkeit bewahrt hat.

Sie ist Ausdruck georgischen Widerstands gegen externe Unterdrückung. Deshalb sind die zum Teil drastischen Appelle von Politikern/innen und Ärzten/innen auch von vielen Gläubigen als Einschränkung ihrer Religionsfreiheit gewertet worden. Viele Menschen fühlten sich an die Sowjetzeit und russische Unterdrückung erinnert. 

In der Pandemie verdeutlicht sich die Spaltung innerhalb der Kirche

Die georgisch-orthodoxe Kirche, in der einige hochrangige Vertreter SARS-CoV-2 als Folge von Homosexualität darstellen, steht für eine traditionelle Lebensweise auch mit Blick auf die Ehe von Mann und Frau. In dieser Krise ist sie selbst zum größten Risiko für die Verbreitung des Virus geworden. In Kirche und Gesellschaft wurde die Entscheidung hart zu bleiben, kontrovers diskutiert.

Vierzehn Vertreter des Klerus und sechzehn Theologen hatten am Donnerstag vor Ostern noch eine Erklärung abgegeben, in der sie ein Fernbleiben vom Ostergottesdienst wegen der Pandemie als keinen Verrat an Gott bezeichneten. Damit wird auch eine Spaltung innerhalb der Kirche deutlich, die auch auf die konservative Amtsführung des Patriarchen zielt.

Letztlich hat die Regierung durch das Offenhalten der Kirchen eine direkte Konfrontation mit der Kirche vermieden. Jedoch wurden durch ein Fahrverbot privater Fahrzeuge und Taxis, die Schließung von Friedhöfen und durch Appelle an die Bevölkerung, dem Ostergottesdienst fernzubleiben, Massenansammlungen in den Kirchen am Osterwochenende verhindert.

Die kontrovers geführte Debatte um die Rolle der Kirche in der Corona-Krise verdeutlicht die Spaltung der georgischen Gesellschaft, die vor allem außerhalb der Hauptstadt Tiflis sehr konservativ ist. Jedoch könnte sie auch einen Schub für eine weitere Pluralisierung und Rationalisierung der georgischen Politik und Gesellschaft geben.

UKRAINE: Aus Trotz gegen den Staat - die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats

In der Ukraine gibt es inzwischen knapp über 6.000 Covid-19--Fälle, 161 Personen sind am SARS-CoV-2 Virus gestorben. Der Staat hat sehr früh auf die Ausbreitung der Epidemie reagiert. Schon Mitte März wurde eine landesweite Quarantäne ausgerufen, Zug- und Flugverbindungen zwischen ukrainischen Städten wurden gestrichen, der internationale Verkehr fast ausnahmslos gestoppt.

Der Öffentliche Nahverkehr in Großstädten blieb nur für die Vertreter/innen der wichtigsten Berufe offen. Geschäfte, Restaurants, Cafés wurden zugemacht, und den Ukrainern ist es verboten, Lebensmittelläden ohne Gesichtsmaske und sogar Parks zu besuchen. Die manchmal zu strikten Maßnahmen werden auch dadurch erklärt, dass die ukrainischen Krankenhäuser auf eine große Welle Erkrankter gar nicht vorbereitet wären. 

Nur die Kirchen blieben von zahlreichen Verboten verschont. Die Religion spielt traditionell eine große Rolle in der Ukraine. Es gibt drei große Konfessionen: die vor zwei Jahren ins Leben gerufene Orthodoxe Kirche der Ukraine (die ukrainische Nationalkirche), die ukrainische Griechisch-Katholische Kirche und die dem Moskauer Patriarchen untergeordnete Ukrainische Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat). Sie alle durften weiterhin ihre Gottesdienste durchführen. Dabei haben die drei Kirchen allerdings sehr unterschiedliche Positionen demonstriert.

Homophobe Fehlinformationen erhöhen das Ansteckungsrisiko in der Kirche 

Während die Orthodoxe Kirche der Ukraine und die Griechisch-Katholische Kirche schon sehr früh die Gläubigen dazu aufgerufen haben, die Kirchen nicht zu besuchen und Gottesdienste lieber online anzuschauen, wandte sich das Oberhaupt der Moskauer Kirche, Metropolit Onufrij, an die Gläubigen mit dem Aufruf, sich in Kirchen zu versammeln.

Der Leiter des wichtigsten Klosters der Moskauer Kirche, des Kiewer Höhlenklosters (Kiew-Petscherska-Lawra) verkündete sogar, das SARS-CoV-2 Virus infiziere nur Homosexuelle. Gläubige sollten das Virus am besten bekämpfen, indem sie einander umarmten.

Es wurden weder die Massengottesdienste am Palmsonntag noch an Ostern abgesagt. Fernsehbilder zeigten, dass bei vielen der Gottesdienste weder der nötige Abstand eingehalten noch die Maskenpflicht respektiert wurden. 

Es strömen hunderte Infizierte in die Klöster

Die fehlenden Schutzmaßnahmen in der Moskauer Kirche blieben nicht ohne Folgen. Schon Mitte April wurden im Kiewer Höhlenkloster über 100 Personen einschließlich Dutzender Mönche und des Leiters des Klosters infiziert. Mindestens zwei Mönche starben. Dies machte rund ein Viertel aller Infektionsfälle in Kiew aus, und die Kirche wurde zum Superspreader.

Auch das zweitwichtigste Kloster der Kirche in der Ukraine, das im Westen des Landes liegende Mariä-Entschlafens-Kloster in Potschajiw, wurde stark betroffen. Hier steckten sich 13 Mönche an, dazu noch 30 Personen in der Stadt Potschajiw. Da die Kirche sich weigerte, das Kloster zu schließen, haben die Regionalbehörden die ganze Stadt mit 8.000 Einwohnern zur Epidemie-Zone erklärt und abgeriegelt.

Die Position der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats wirft viele Fragen in der Gesellschaft auf. Sogar von einer „gezielten Sabotage im Auftrag Moskaus“ ist die Rede. Das ist eigentlich schwer zu glauben, wenn man bedenkt, dass hohe Priester einschließlich, laut Berichten in den Medien, des Kirchenoberhaupts Metropolit Onufrij selbst infiziert sein sollen. Vielmehr geht es offensichtlich um blinde Ignoranz und die Behauptung einer besonderen Rolle in der Gesellschaft. 

RUSSLAND: Uneins im Schulterschluss

„Mögen alle ihren Glauben kräftigen! Christus ist auferstanden!“ sprach der Patriarch weihevoll und fast allein im Kirchenhaus. Denn die orthodoxen Gläubigen in Russland mussten das Osterfest zu Hause begehen: mit einem selbst gesegneten Osterkuchen vor dem Bildschirm im Wohnzimmer.

Der Hauptgottesdienst in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale wurde live im Fernsehen übertragen. Zwei Dutzend weißgewandete Geistliche umstanden im Corona-Sicherheitsabstand das Oberhaupt der russischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill I. Der anschließende feierliche Kreuzumzug führte dieses Mal nicht auf die Straße, sondern nur durch die Kirchenhalle. Die Glocken läuteten um Mitternacht, in manchen Fenstern stellten Gläubige in der Stadt Kerzen auf. Ostern in Selbstisolation.

Versammlungsverbote werden als sowjetische Praktiken verdammt

Die Gottesdienste ohne Gläubige waren nicht unumstritten. Höhere Kirchenvertreter in Jekaterinburg oder Saratow und viele Priester erklärten anfangs ihren Widerstand und verglichen die Versammlungsverbote der Behörden gar mit sowjetischen Praktiken.

Örtliche Würdenträger beklagten die Vorgaben als „Schmähung Gottes“ oder weigerten sich sogar, Gegenstände des Gottesdienstes wie den Abendmahlslöffel mit Alkohol zu säubern. Die Sicherheitsgarde des Patriarchen sammelte mit einer Petition gegen die Schließung der Kirchen für Gläubige Zehntausende von Unterschriften.

Den Kampf gegen das SARS-CoV-2 Virus führte die Kirche zuerst auf ihre Weise mit Prozessionen und Gebeten. Anfang April fuhr der Patriarch in seiner Mercedes-Limousine unter Blaulicht durch Moskaus Straßen – eine Gottesmutterikone an seiner Seite zur Bannung alles Bösen. 

Die Särge der Nächsten werden zum Drohmittel

Die Feiern zum Palmsonntag am 12. April brachten jedoch wie in einer Generalprobe für Ostern die Umkehr. Zwar hatte der Patriarch mittlerweile öffentlich geraten, besser zu Hause zu beten. Doch in vielen Regionen Russlands kamen dennoch Gläubige gegen alle Gebote der Selbstisolierung in den Kirchen zusammen, sodass der Metropolit von Rostow während des Gottesdienstes den Inbrünstigen in der Menge mit den „Särgen ihrer Nächsten“ drohen musste, um sie zum Abstand anzuhalten.

Lokal drohten die Konflikte zwischen Kirche und staatlicher Macht zu eskalieren. Polizisten verteilten Strafzettel an Gläubige wegen des Verstoßes gegen die Selbstisolation. Vertreter/innen der Gouverneure rügten öffentlich die Verantwortungslosigkeit mancher Priester.

Da gab der Patriarch strikt die Richtung an: kein Streit mehr mit den Behörden und Verbot des Gottesdienstbesuchs. Dieser Meinungswechsel verlangte von der Kirchenführung große Biegsamkeit. Denn noch Mitte März, als Versammlungen von Menschen in Kinos oder Fitnessklubs bereits verboten waren, hatte die Kirche auf ihrem Recht auf Gottesdienst beharrt.

Bis zum 17. März küssten Hunderte von Gläubigen die in Sankt Petersburg ausgestellten Reliquien von Johannes dem Täufer. Als der Gouverneur von Sankt Petersburg später die Schließung der Kirchen verfügte, warf ihm die Rechtsabteilung des Moskauer Patriarchats vor, gegen die Verfassung zu verstoßen.

Die Rhetorik änderte sich schrittweise, als die Zahlen Infizierter, darunter auch einiger Priester, und der Druck der staatlichen Gesundheitsbehörden wuchsen.

Die Zugehörigkeit zur Kirche ist eine Frage der Identität

Die geschmeidige Unterordnung unter die staatliche Macht liegt in der Tradition einer Kirche, die sich über Jahrhunderte an der Seite der Herrschenden Einfluss und Wohlergehen erworben und die Symbiose als Lebensform ausgestaltet hat.

Die Kirche ist wiederum den Mächtigen lieb: als Ressource der Machtlegitimierung und zur Konsolidierung einer Gesellschaft, der es an einer allseits akzeptierten Vorstellung vom heutigen Russland und von seinem zukünftigen Platz in der Welt fehlt.

Die Besinnung auf historische Triumphe und auf die „wahren und einzigartigen“ Traditionen Russlands soll dieses Vakuum füllen. Hier ist die Kirche als vermeintlicher Gralshüter der Traditionen gefragt. Denn laut Meinungsumfragen ist die Zugehörigkeit zur Orthodoxie für viele Russ/innen vor allem eine Frage der eigenen Identität und viel weniger des Glaubens.

Aber die Konflikte um öffentliche Gottesdienste und Ostern haben gezeigt, dass die Einheit auch Risse hat: innerhalb der Kirche, aber vor allem auf Seiten der Kirchendiener, die sich nicht in allem dem Staat unterordnen wollen, und auf Seiten des Staates, der sich in manchen Regionen zu einem harschen Vorgehen gegen Gläubige bereit zeigte.

Sogar der enge Schulterschluss zwischen Kirche und Staat in Russland lockert sich in Zeiten der Pandemie ein wenig.